__ WOYZECK (electropop opera)
PROGRAMM
electropop opera by UMS ´n JIP based on the drama
"Woyzeck" by Georg Büchner
German (subtitles: En/Fr/Sp)
2023, world premiere
Original text: Georg Büchner
Libretto: JIP
Music: UMS ´n JIP
Stage Director: Wolfgang Beuschel
Stage & Light Design: UMS ´n JIP
Performers: Ulrike Mayer-Spohn, Javier Hagen
Total Duration: 80m
IDEE
Woyzeck nach dem gleichnamigen
Dramenfragment von Georg Büchner ist ein Musiktheater von
und mit UMS'nJIP (Ulrike Mayer-Spohn und Javier
Hagen), inszeniert von Wolfgang Beuschel.
Büchners offenes und fragmentarisch überliefertes Theaterstück bietet mit seinen lose und in keiner verbindlichen Reihenfolge aneinander gereihten Szenen für UMS'nJIP ein dankbares Spielfeld für experimentelle Formate: Electropop und Elemente der klassischen experimentellen Musik bieten die Reibefläche, an welcher sich die im Stück expressionistisch gezeichneten Standesunterschiede wetzen.
UMS'nJIP interessieren Übergänge,
Grauzonen, Klangräume: die Ambivalenz eines Wortes
zwischen Klang und Bedeutung, die Ambivalenz eines Bildes
zwischen Erscheinung und Bedeutung, und schliesslich die
Mechanik, die Gleichzeitigkeit und das Verweben
verschiedener Medien. So loten sie kompositorisch,
szenisch und visuell die psychologischen Zwischenräume der
im Woyzeck vorkommenden Figuren.
Mit ihren Electropop Operas ONE, TWO, THREE, FOUR, FIVE, EINER, SANCHO, A CHRISTMAS CAROL, zahlreichen halbszenischen und performativen Auftragsarbeiten und den Musiktheatern in Zusammenarbeit mit dem CETC am Teatro Colon in Buenos Aires können UMS'nJIP seit 2007 auf eine jahrelange Erfahrung mit dem Genre zurückblicken. Ihre Arbeiten sind am ehesten dem instrumentalen Theater und konzeptuellen Musiktheaterformen zuzuordnen. Sie spielen virtuos und ironisch mit verschiedenen Ästhetiken zwischen Experimentalmusik und Electropop. Sie bedienen ein unkonventionelles und leichtes Taschenformat, das künstlerisches High-Tech-Labor mit höchster Agilität vereinigt.
Textgrundlage für UMS'nJIP´s Woyzeck ist das
gekürzte und dramaturgisch verdichtete deutsche Original.
Die Aufführung wird wahlweise mit deutschen, englischen,
spanischen oder französischen Untertiteln versehen. Für die
Bühne und Visuals zeichnen UMS'nJIP verantwortlich.
Die Komposition
In UMS'nJIP's Lesart hat die
Person des Woyzeck zu viele Antennen und ist, mangels der
Fähigkeit zu filtern, überfordert.
Um die ZuhörerInnen diesen Zustand
nacherleben zu lassen, legen UMS'nJIP einen Klangraum an, in
welchem die ZuhörerInnen von Lautsprechern und den SpielerInnen (als
Live-KlangträgerInnen) rings umgeben sind: Das
Publikum taucht in einem Hybrid zwischen Tableau Vivant,
Installation, Performance und Musiktheater.
In ihrem Klang- und Performanceraum ist zwar
viel Information vorhanden, das Publikum erhält aber - die
Transformationsprozesse sind bewusst langsam - viel
Zeit, und damit die Möglichkeit, zu filtern und in eigener
Wahl den verschiedenen akustischen und visuellen Strängen zu
folgen. Die
Behandlung von Stimme und Blockflöte belässt durch die
fragile Dekonstruktion ihrer Spielweisen die Handlung des
Dramas dezidiert im Vordergrund, die InterpretInnen
vermischen sich mit den Klangtexturen und verschwinden
sozusagen meist im Klangraum.
Musikalisch spielen UMS'nJIP mit Ästhetiken
des Synthie-Pops der 1970er und 80er, den klanglichen
Einschwing- und Auflösungsprozessen, wie sie Komponisten wie
Beat Furrer oder Salvatore Sciarrino etabliert haben, und
kombinieren erstere verspielt mit seriellen
Kompositionstechniken; Kreismotive sind vielerorts präsent
und spiegeln die Auswegslosigkeit von Woyzecks Dasein.
Auffällig ist die Behandlung der Singstimme: jeder Rolle
wird eine spezifische Stimmfarbe von JIP zugeordnet, diese
bleibt im Verlaufe des Stückes unverändert. Die einzige
Rolle, welche stimmlich eine Veränderung erfährt, ist
Woyzeck: er ist zugleich der einzige, der - nur zu Beginn
des Stücks - über eine normale Sprechstimme verfügt. Im
Verlaufe des Stückes durchläuft er alle Stimmfarben, bis er
im irr-debilen stimmlichen Zustand, der dem Hauptmann
zugewiesen ist, endet.
Die Inszenierung
Zu sehen sind auf der Bühne zwei
Projektionsflächen. Zudem eine Frau und ein Mann an zwei
Arbeitstischen, wobei offengelassen wird, ob sie Marie und
Woyzeck bzw. ein Paar darstellen. Vielmehr hat man den
Eindruck einer Heimwerkstatt, in welcher die beiden
arbeiten. Deren Aufgabe ist denkbar einfach: Ordnung im
Chaos schaffen. Eine Kunststoffschale, in welcher Hunderte
von Schrauben, Nägeln, Dübeln und weiterem Werkzeug
ungeordnet auf- und nebeneinanderliegen, wird fein
säuberlich ausgelegt, und die Einzelteile werden im Verlaufe
des Abends in Gruppen sortiert; Knöpfe werden einem roten
Umhang angenäht. Durch die Langsamkeit dieses Prozesses
entstehen in der Reibung zum Text Assoziationen auch zu
Waffen, Munition und Heeresordnungen.
Die eine Projektionsfläche blendet die Texte
szenenweise ein, so dass individuelle Lesetempi, selbst
wiederholtes Lesen, einfach möglich sind. Die zweite
Projektionsfläche arbeitet mit szenenweise verschiedenen
zueinander bezogenen grafischen Symbolen (z.B.
Woyzeck/Bauer, Marie/Herz, Tambourmajor/Virus,
Grossmutter/Hirn, Andres/Unterhose usw.), die zu Beginn des
Spiels entschlüsselt werden und so durch das Stück durch
eine grafische Handlungsstütze bilden.
Was bleibt?
Unser Woyzeck ist ein Angebot zum lauschenden
Innehalten, zum Reinhören und zum intermedialen Mäandrieren
in der ruhigen Mechanik unseres musikalisch-szenischen
Prozesses - und dies anhand eines bekannten klassischen
Stoffes: einer Milieustudie, die durch ihren Realismus bis
heute ungebrochen emotional zu packen vermag.
Woyzeck is a stage play written by Georg
Büchner. Woyzeck deals with the dehumanising
effects of doctors and the military on a young man's life.
It is often seen as 'working class' tragedy, though it can
also be viewed as having another dimension, portraying the
'perennial tragedy of human jealousy'. Woyzeck has
become one of the most performed and influential plays in
the German theatre repertory.
Büchner probably began writing the play between
June and September 1836. It is loosely based on the true
story of Johann Christian Woyzeck,
a Leipzig wigmaker who later became a soldier.
In 1821, Woyzeck, in a fit of jealousy, murdered
Christiane Woost, a widow with whom he had been living; he
was later publicly beheaded. Büchner's work remained
in a fragmentary state at the time of his early death in
1837. The play was first made public in a heavily edited
and augmented version by Karl Emil Franzos, who
published it in periodicals in 1875 and 1877, before
including it in his edition of Büchner's collected works
in 1879. Franzos mistakenly understood the title
character's name in the manuscripts as "Wozzeck", and the
play bore that title in its first stage productions, and
in subsequent published editions based on Franzos's
version. The play was not performed until November 8, 1913
at the Residenztheater, Munich, where it was produced
by Max Reinhardt. Not only did Franzos have to cope
with Büchner's "microscopically small" handwriting, but
the pages had faded so badly that they had to be
chemically treated to make the text decipherable at all.
Franzos was unaware of the real-life basis of the drama,
which was first generally disseminated through the
appearance in 1921 of a new edition based on the
manuscript by Georg Witkowski, which introduced the
corrected title Woyzeck.
Franz Woyzeck, a lonely soldier stationed in a provincial
German town, is living with Marie, the mother of his child
who is not blessed by the church as the child was born out
of wedlock. Woyzeck earns extra money for his family by
performing menial jobs for the Captain and agreeing to
take part in medical experiments conducted by
the Doctor. At one of these experiments, the Doctor tells
Woyzeck that he must eat nothing but peas. Woyzeck's
mental health is breaking down and he begins to experience
a series of apocalyptic visions. Meanwhile, Marie grows
tired of Woyzeck and turns her attentions to a
handsome drum major who, in an ambiguous scene
taking place in Marie's bedroom, sleeps with her. With his
jealous suspicions growing, Woyzeck confronts the drum
major, who beats Woyzeck up and humiliates him. Finally,
Woyzeck stabs Marie to death by a pond. While a third
act trial is claimed by some, notably A. H. J.
Knight and Fritz Bergemann, to have been part of the
original conception (what may be the beginning of a
courtroom scene survives), the fragment, as left by
Büchner, ends with Woyzeck disposing of the knife in the
pond while trying to clean himself of the blood. Here
Franzos inserted the stage direction "ertrinkt" (he
drowns), and although this emendation according to Knight
"almost amounts to a forgery", most versions employ
drowning as an appropriate resolution to the story.
G. Büchner, Woyzeck, Handschriftauszug
BIOGRAPHIEN
Wolfgang Beuschel (Regie). 1954 in
Nürnberg geboren, studierte Wolfgang Beuschel an der
Staatlichen Hochschule für Musik
Heidelberg-Mannheim Schulmusik und an der Universität
Heidelberg Germanistik. Seine Karriere als Schauspieler
begann 1985 am Stadttheater Pforzheim. Nach Engagements in
Aachen, Basel, Konstanz, Luzern, an der Oper in Zürich
und dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg arbeitet er als
Rezitator, Schauspieler, Regisseur und Coach. Er ist
Leiter des schweizweit einzigen Weiterbildgungsprojektes für
Kulturschaffende in Zürich, Regisseur in Résidence des
Atelier Vocaloe d'Alsace mit Sitz in Colmar und er
unterrichtet Auftrittskompetenz an der ZHAW in Winterthur
am Institut für angewandte
Medienwissenschaft. Wolfgang Beuschels Interesse gilt
"Wort und Ton"-Programmen. Als Rezitator ist er in den
letzten Jahren an Liederabenden mit Ulrike Andersen, Ruth
Ziesak, Regina Jakobi, Hanno Müller-Bachmann,
Martin Bruss, Christian Hilz und den Pianisten Katja
Bouscarrut, Peter Bordfeldt, Ulrich Eisenlohr, Dorian
Keilhack, Simone Keller, Walter Prossnitz und dem
Orchester des Norddeutschen Rundfunks, dem Orchester der
Staatsoperette Dresden, dem Philharmonischen
Orchester Heidelberg und dem Orchester der Zürcher
Oper. Beuschel entwickelt allein und im Team mit Simone
Keller und Philip Bartels Programme zu Franz Schubert,
Felix und Fanny Mendelssohn, Ludwig Uhland, Heinrich von
Kleist, Paul Heyse, Mary Shelly, Ludwig Tieck und
Michael Bulgakov. Als Schauspieler spielte er in Klettes
Aachener Shakespearezyklus den Polonius im "Hamlet" und den
Ringer Charles in "Wie es euch gefällt", bei Markus
Bothe den Puk im"Sommernachtstraum", bei Swetlana Schönfeld
den Shlomo Herzl in "Mein Kampf“. In Zürich war er
in den 90er Jahen Albrecht Hirches Woyzeck. Ausserdem hat er
den Amadeus von Peter Schaffer, Ella von Achternbusch
und den Kontrabas von Patrick Süsskind gespielt. Am
Opernhaus Zürich spielte er den Komponisten Franz
Schubert in Claus Guths Fierrabras Inszenierung und in
Hamburg am Schauspielhaus Basta in Tintenherz
von Cornelia Funke. Bei EMI Classics ist Wolfgang
Beuschel auf DVD als Schubert in Schuberts Fierrabras zu
sehen (Regie: Claus Guth, Opernhaus Zürich, 2002). Für
UMS'nJIP arbeitete als Regisseur in den folgenden
Produktionen: TWO (20min),
THREE (esperanTEKKNopera),
FOUR (The Creation), FIVE (Grimm´s Tales),
Sancho, A Christmas Carol, Silence, On Cage.
UMS'nJIP are a Swiss contemporary music duo, consisting of Ulrike Mayer-Spohn (UMS) on recorders & electronics and Javier Hagen (JIP), voice & electronics. One of the most experienced and distinguished contemporary music laboratories of our times, they work as performers, composers and organizers within a global network of composers, visual artists, stage directors, researchers, universities and festivals. Their special interest in long term collaboration, with its exchange of knowledge and awareness, brings context to new creations and results in an outstanding increase of artistic content. In this manner, UMS'nJIP explore new settings for voice, recorders and electronics, ranging from live to digital performance in concert, scenic or installative formats and often integrate European as well as non-European music. UMS'nJIP have been invited to perform at prestigious contemporary music festivals around the world including Zürich, Lucerne, Donaueschingen, Stuttgart, Berlin, Paris, Barcelona, Athens, Istanbul, Moscow, Shanghai, Hong Kong, Seoul, Tokyo, Buenos Aires, and New York. They have premiered hundreds of works, collaborating with both world famous and aspiring young composers such as Heiner Goebbels, Wolfgang Rihm, Mauricio Kagel, Jennifer Walshe, Wolfgang Mitterer, Erik Oña, Luis Codera Puzo, Chikashi Miyama, Huang Ruo and Guo Wenjing. They can look back on more than 1300 concerts since their debut in 2007 and are one of the most active contemporary music ensembles worldwide, bringing both young and established works not only to famous venues but also to audiences who do not have easy access to live performances of top quality contemporary music. Both individually and as a duo UMS and JIP have received numerous commissions and awards and have been invited to share their knowledge in renowned universities in Europe, America and Asia. JIP is also the director of the Swiss Contemporary Music Festival Forum Wallis and the current president of ISCM Switzerland, as well as a board member of the European Conference of Promoters of New Music ECPNM (2014-18), the Swiss Music Edition, and of the UNESCO Commission for the Inventory of Intangible Cultural Heritage in the Canton of Valais (2009-18). Since 2013 UMS has been pioneering two new research projects: Recorder Map and Recorderology, and the duo has been invited to act as experts in the European Union's FP7 i-Treasures project.
Wolfgang Beuschel staging TWO, THREE, FOUR, FIVE, Sancho, A Christmas Carol,
pics by UMS ´n JIP, Walcheturm Zürich 2009-2020
ZUM ORIGINAL
HINTERGRÜNDE
Woyzeck ist
ein Dramenfragment des
deutschen Dramatikers und Dichters Georg
Büchner, der mit der Niederschrift vermutlich zwischen
etwa Ende Juli und Anfang Oktober 1836 begann. Bei seinem
Tod im Februar 1837 blieb das Werk als Fragment zurück.
Das Manuskript ist in mehreren Entwurfsstufen überliefert.
Im Druck erschien Woyzeck erstmals 1879 in der
stark überarbeiteten und vom Herausgeber veränderten Fassung
von Karl Emil Franzos. Erst am 8. November 1913
wurde Woyzeck im Residenztheater München uraufgeführt.
Seitdem ist es in zahlreiche Sprachen übersetzt und viele
Male neu interpretiert worden. Es verkörpert, vor allem
seiner lockeren Episoden-Folge wegen, den Typus des offenen Dramas.
Woyzeck gehört zu den meistgespielten und
einflussreichsten Dramen der deutschen Literatur, das
zahlreiche Künstler zu eigenen Werken inspirierte.
Historisches Vorbild
für den Büchnerschen Woyzeck ist der am 3. Januar
1780 in Leipzig als Sohn eines Perückenmachers
geborene Johann Christian Woyzeck.
Aus Eifersucht erstach er am 21. Juni 1821 die 46-jährige
Witwe Johanna Christiane Woost in einem Hausflur in der
Leipziger Sandgasse im Seeburgviertel.
Im Prozess erstellte
der Medizinprofessor Johann Christian August
Clarus zwei Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit des
Angeklagten. Woyzeck wurde nach einem langen Verfahren, in
dem sich sogar der sächsische Thronfolger mit einem
Gutachten für ihn einsetzte, verurteilt und am 27. August
1824 auf dem Marktplatz in Leipzig öffentlich
hingerichtet. Diese historische Vorlage ist in jüngerer Zeit
editorisch umfangreich bearbeitet worden. So sind heute alle
den historischen Woyzeck betreffenden Urteile und Gutachten
im Volltext zugänglich und sowohl rechts- als auch
psychiatriehistorisch ausgewertet. Clarus’ Gutachten mit dem
Titel Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders J. C.
Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig
erwiesen erschien in dem Fachblatt Henkes
Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. Büchners Vater hatte
die Zeitschrift abonniert und veröffentlichte darin selbst
Fälle aus seiner Praxis als Arzt.
Eine weitere
historische Begebenheit wurde mit den
„Erbsbrei-Experimenten“ des Gießener Wissenschaftlers Justus von Liebig in das
Drama eingearbeitet. Um herauszufinden, ob man Militär und
Proletariat nicht mit eiweißreichen Hülsenfrüchten günstiger
verköstigen könne, mussten Soldaten bei
diesen Menschenversuchen drei Monate lang
ausschließlich Erbsbrei essen.
Die Probanden litten bald
unter Halluzinationen, verloren die Kontrolle über ihre
Muskeln einschließlich des Schließmuskels und
des Harndrangs. Die neurologischen
Krankheitssymptome, die Woyzeck beim einseitigen Erbsenessen
entwickelte, sind dabei tatsächlich die Folgen
einer Vergiftung mit einem Übermaß
an nichtproteinogenen Aminosäuren. In Anbauländern wie
Bangladesch oder Äthiopien kommt es noch heute zu solchen
Vergiftungserscheinungen bei armen Leuten, die sich nur
einseitige Kost leisten können.
Insgesamt
liegen dem Drama – Streichungen und verworfene Passagen
nicht eingerechnet – 31 Szenen aus der Hand Büchners
zugrunde. Es ist nicht erkennbar, wie Büchner diese Szenen
anordnen wollte. Die Manuskriptseiten haben keine
Seitenzahlen, die Szenen des nicht in Akte gegliederten
Stücks sind nicht nummeriert. Viele Szenen sind sehr kurz
und trotzdem eigenständig. Das Woyzeck-Fragment liegt
handschriftlich in mehreren Entwurfsfassungen vor, die
heute im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv
aufbewahrt werden.
Eine Faksimileausgabe der
Handschriften veröffentlichte 1981 Gerhard Schmid.
Georg Büchner wird steckbrieflich gesucht: Der hierunter signalisierte Georg Büchner, Student der Medizin aus Darmstadt, hat sich der gerichtlichen Untersuchung seiner indicirten Theilnahme an staatsverrätherischen Handlungen durch die Entfernung aus dem Vaterlande entzogen. Man ersucht deshalb die öffentlichen Behörden des In- und Auslandes, denselben im Betretungsfalle festnehmen und wohlverwahrt an die unterzeichnete Stelle abliefern zu lassen. Darmstadt, den 13. Juni 1835.
DIE QUELLENLAGE
Vierzehn Jahre nach Georg Büchners Tod
brachte sein Bruder Ludwig 1850
die Nachgelassenen
Schriften heraus. Woyzeck wurde nicht
aufgenommen, da das Manuskript stark verblasst und
weitgehend unleserlich war.
Der österreichische Schriftsteller Karl
Emil Franzos konnte das Manuskript mit chemischer Behandlung
wieder lesbar machen. Er publizierte 1879 das Fragment in
einer stark überarbeiteten Fassung in Georg Büchner:
Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Auf die von
Franzos herausgegebene Fassung bezog sich Paul Landau,
der 1909 in Georg Büchners gesammelte
Schriften eine weitere Fassung herausgab, die sich
lediglich in der Szenenanordnung von Franzos’ Ausgabe
unterschied. Diese Version benutzte Alban Berg als
Grundlage für seine Oper „Wozzeck“.
Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei
Bänden, herausgegeben von Henri Poschmann, ist die jüngste
Edition von Büchners Gesamtwerk (seit 2002 als Taschenbuch
im Insel-Verlag). Burghard Dedner ist zusammen mit Thomas
Michael Mayer verantwortlich für
die Studienausgabe bei Reclam. Im Januar 2006 ist
als aktuelle Edition der Woyzeck als Band 7
der Historisch-kritische(n) Ausgabe der Sämtlichen
Werke und Schriften Georg Büchners, der Marburger
Ausgabe, erschienen. Der Textband (Band 7.1) wurde von
Burghard Dedner und Gerald Funk herausgegeben, der
Erläuterungsband (Band 7.2) von Burghard Dedner.
Die Marburger Ausgabe ist seit September 2013
abgeschlossen.
DIE HANDLUNG IM ÜBERBLICK
Der einfache Soldat Franz Woyzeck, der
seine Freundin Marie und das gemeinsame uneheliche
Kind finanziell zu unterstützen versucht, arbeitet
als Diener für seinen Hauptmann. Um sich
einen zusätzlichen Verdienst zu
seinem mageren Sold, den er restlos an Marie
abgibt, zu sichern, lässt er sich von einem skrupellosen
Arzt zu Versuchszwecken auf Erbsendiät setzen.
Hauptmann und Arzt nutzen Woyzeck nicht nur
physisch und psychisch aus, sondern demütigen
ihn obendrein in
aller Öffentlichkeit. Als Marie heimlich eine
Affäre mit einem Tambourmajor beginnt
und Woyzecks aufkeimender Verdacht sich bestätigt,
nachdem er Marie im Wirtshaus beim Tanz mit dem
Nebenbuhler beobachtet hat, glaubt er, innere Stimmen
zu hören, die ihm befehlen, die treulose
Marie umzubringen. Weil sein Geld für den Kauf einer
Pistole nicht ausreicht, besorgt er sich ein Messer,
führt Marie auf einem abendlichen Spaziergang
in den nahegelegenen Wald und ersticht sie dort am Ufer
eines Sees.
Büchner beschreibt hier die Deformation
eines Menschen zum animalischen Wesen, weil ihm Besitz,
soziale Anerkennung und lebensnotwendiges
Geld fehlen. Der Tambourmajor hat ihn aus dem einzigen
noch vorhandenen Umfeld, in dem er noch
Mensch sein konnte, verdrängt. „Viehische
Vernunft, wildes Tier, der Affe als Soldat, das
pissende Pferd, ein thierischer Mensch“ spiegeln
all diese Deformationen wider.
FIGUREN (Auswahl)
Woyzeck. Friedrich Johann Franz Woyzeck, genannt Franz, ist ein 30 Jahre alter Mann, dessen Hauptberuf Wehrmann ist. Er hat ein uneheliches Kind mit Marie. Da Woyzeck nur einen kargen Soldatensold bekommt und für Marie und ihr Kind Christian Unterhalt bezahlen muss, versucht er sich mit Nebenberufen über Wasser zu halten. So arbeitet er als persönlicher Assistent für den Hauptmann und als Proband für den Dorfarzt. Er leidet an Schizophrenie und ist psychisch labil. Maries Beziehung zum Tambourmajor, welche sie zu verheimlichen versucht, macht ihn eifersüchtig und misstrauisch.
Marie. Marie ist die Geliebte von Woyzeck und die Mutter des gemeinsamen unehelichen Kindes. Sie wird als sehr attraktiv beschrieben. Sie lässt sich auf eine Affäre mit dem Tambourmajor ein, wodurch sich ihr anfangs vertrautes Verhältnis zu Woyzeck zunehmend verschlechtert. Letztlich führt das gestörte Verhältnis dazu, dass Woyzeck sie eines Abends am Teich ermordet. Marie erscheint untreu, da sie sich dem Tambourmajor hingibt, wenn auch erst widerwillig. Sie lässt sich durch die Verlockung materiellen Besitzes und Geschenke beeinflussen. Des Weiteren strebt sie einen gesellschaftlichen Aufstieg durch die Liaison mit dem Tambourmajor an. Trotz ihrer Untreue ist sie jedoch nicht gewissenlos, da sie den vermeintlichen Ehebruch später sehr bereut und Hilfe in der Bibel sucht.
Hauptmann. Der Hauptmann gehört zur höheren Gesellschaftsschicht. Woyzeck dient ihm als persönlicher Assistent, der ihm den Bart rasiert und kleinere Besorgungen erledigt. Der Doktor beschreibt ihn als aufgedunsen und mit fettem Hals. Seine Abneigung gegen Moralverstöße, wie es ein uneheliches Kind für ihn beispielsweise darstellt, sowie die für ihn große Wichtigkeit des kirchlichen Segens zeigen, dass er allgemein kirchlich-konservativ eingestellt ist. Zudem vermitteln seine herablassenden Aussagen gegenüber Woyzeck bzw. das Sich-lustig-Machen über ihn eine gewisse Arroganz. Auch seine pfiffige Sprechweise, um Klugheit zu beweisen, zeugt davon. Des Weiteren ist er nach eigener Aussage ein schwermütiger bzw. schwärmerischer Mensch und nicht zuletzt mit seinen mündlichen Überlegungen zur Ewigkeit sehr philosophisch. Sein offensichtlichstes Merkmal stellt jedoch seine enorme Abneigung gegen Hetzerei und Eile dar. So passt allein das Rennen nicht in sein Bild eines guten Menschen, denn Eile gründet seiner Meinung nach auf einem schlechten Gewissen.
Doktor. Der Doktor ist Teil der gebildeten Schicht und tritt im Buch nicht als Privatperson, sondern nur als Wissenschaftler und Forscher auf. Er ist höchst interessiert an naturwissenschaftlichen Phänomenen. Aus diesem Grund führt er diverse Experimente durch. So testet er an Woyzeck, wie sich das dauerhafte Essen von Erbsen auf den Körper auswirkt. Bei diesem Experiment wird auch die skrupellose Natur des Doktors deutlich, da er Woyzeck nicht als Menschen betrachtet, sondern als Versuchsobjekt, und ihm die negativen Auswirkungen auf Woyzeck egal sind. Er ist leicht reizbar und findet Gefallen daran, anderen Leuten mit einer Diagnose des medizinischen Zustandes einen Schrecken einzujagen. Auch er schikaniert Woyzeck mehrmals öffentlich, erhöht jedoch bei jeder Verschlechterung seines körperlichen und psychischen Zustands dessen Sold.
Tambourmajor. Der Tambourmajor führt die Militärkapelle an. Er wird als starker und selbstbewusster, wenn nicht eingebildeter Mann beschrieben. Marie und ihre Nachbarin Margret vergleichen ihn mit einem Baum und einem Löwen. Maries Anblick erfüllt ihn mit großer Lust und sexuellem Verlangen, weshalb er versucht, sie sich zu eigen zu machen. Er überredet Marie in der Szene „Mariens Kammer“ dazu, mit ihm intim zu werden. Marie wehrt sich zunächst, macht sich ihm aber auf erneutes Drängen fast schon gleichgültig gefügig. Der Tambourmajor legt großen Wert auf seine äußerliche Erscheinung. Er trägt seine Uniform sowie seine weißen Handschuhe und einen prächtigen Federbusch mit Überzeugung. Er kann Marie teure Geschenke machen, beispielsweise goldene Ohrringe, da er keine Familie zu ernähren hat. In seinem letzten Auftritt verhält sich der Tambourmajor sehr aggressiv und ringt Woyzeck zu Boden. Insgesamt kann er als Gegenspieler zur Figur des Woyzeck gesehen werden.
Andres. Andres singt gerne und viel, was darauf hindeutet, dass er ein fröhlicher und positiver Mensch ist. Er steht zu seinen Gefühlen und Ängsten. Sowohl in der Szene „Die Wachtstube“ als auch in „Ein Zimmer in der Kaserne“ versucht Woyzeck Andres seine innerlichen Unruhen mitzuteilen, jedoch nimmt dieser ihn und seine Sorgen nicht ernst. Er erscheint desinteressiert und kümmert sich nicht weiter um Woyzeck. Obwohl beide lediglich Kollegen sind, hat jedoch Woyzeck zu ihm viel Vertrauen und er ist die einzige Person in dem Drama, abgesehen von Marie, die Woyzeck auf Augenhöhe begegnet. Andres’ Loyalität gegenüber Woyzeck wird in der Szene „Kasernenhof“ ersichtlich. Er zitiert die Aussage des Tambourmajors über Marie. Die Vertrauenswürdigkeit Andres’ wird deutlich, als ihm Woyzeck in der Szene „Kaserne“ sein Erbe und seine Identität anvertraut.
MORDMOTIVE WOYZECKS (klassische Interpretationsansätze)
Das Drama bietet, je nach Ausgabe und Abfolge der Szenen, unterschiedlich gewichtete Mordmotive Woyzecks:
Das Eifersuchtsmotiv: Das offensichtlichste Mordmotiv ist die Eifersucht auf den Tambourmajor, da Marie mit ihm ein Verhältnis eingeht, obwohl Woyzeck sich für sie und das gemeinsame Kind gleichsam aufopfert. Woyzeck ist dem Major in physischer, gesellschaftlicher und sexueller Hinsicht unterlegen (besonders deutlich in der Szene, in der die beiden kämpfen) und lenkt seine Aggression deswegen auf Marie.
Die psychische Störung: Woyzeck hört immer wieder Stimmen, ein Symptom für Schizophrenie. Hervorgerufen oder verschlimmert wird seine Krankheit durch den Vertrag mit dem Arzt. Anstatt Woyzeck zu heilen, benutzt er ihn als Versuchskaninchen und ermahnt ihn, eine extrem einseitige Ernährung (Erbsen-Diät) beizubehalten, und verstärkt so Woyzecks Mangelerscheinungen noch. Seine Symptome weisen auf eine Vergiftung durch die einseitige Ernährung mit Erbsenbrei hin. Das egoistische Motiv des Doktors ist allein der Ehrgeiz, seine pseudo-wissenschaftlichen Experimente voranzubringen. Somit erscheint der Mord zum Teil auch als Folge der durch Fehlernährung begünstigten psychischen Instabilität Woyzecks, die sich schon zu Beginn des Dramas abzeichnet.
Die Befreiung von der Gesellschaft: Woyzeck wird von der Gesellschaft, repräsentiert von Hauptmann, Doktor und Tambourmajor, ausgenutzt und gedemütigt. Sein Mord an Marie ist somit auch eine Form des Protests gegen die bestehenden Verhältnisse, der Ausbruch seiner aufgestauten Aggression gegen die etablierte Klasse, der er ausgeliefert ist.
Das finanzielle Motiv: Durch Woyzecks niedrige Gesellschaftliche Stellung ist er finanziell schlecht aufgestellt. Er ist zu arm um zu leben, selbst die Mordwaffe kann er sich kaum leisten. Der Tod ist die Erlösung von all seinen finanziellen Problemen.
DER KERN DES DRAMAS
Um den Kernpunkt des
Dramas Woyzeck zu erfassen, ist es wichtig,
auf das Mordmotiv einzugehen. Es genügt jedoch
nicht, sich auf Woyzecks Eifersucht gegenüber
dem Tambourmajor zu beschränken.
Eine große Rolle spielen auch die
gesellschaftlichen Hintergründe, ganz besonders
die ständische Gliederung der Gesellschaft.
Deutlich wird dies vor allem mit einem Blick auf
die Personenkonstellation und die Sprache
von Büchners Figuren.
Woyzeck wird in dieser Gesellschaft
unterdrückt und gedemütigt, was sich in den
Beziehungen zu dem Hauptmann, dem Doktor, aber auch
dem Tambourmajor widerspiegelt: zum Hauptmann, der
Woyzeck aufgrund seiner ärmlichen Herkunft und
seines unehelichen Kindes mit Marie als „unmoralisch“
bezeichnet; zum Doktor, der ihn als Versuchsobjekt
ansieht und zur gesundheitsschädigenden Ernährung
zwingt, dessen Experimenten sich Woyzeck jedoch nicht
entziehen kann, da er auf diesen Nebenverdienst
angewiesen ist, um seine Familie zu ernähren; zum
Tambourmajor, der Woyzeck gegenüber keinen
Respekt erweist und ihn sowohl öffentlich als
auch privat lächerlich macht.
Woyzeck ist zudem nicht nur physisch,
sondern auch psychisch labil. Das hat zur Folge, dass
er sich der Willkür
anderer Menschen unterordnet, obwohl deren
Unterdrückung in ihm Wut und Verzweiflung auslösen.
Allein die Beziehung zu Marie gibt ihm Halt
und vermittelt ihm das Gefühl, ein wertvoller
Mensch zu sein.
Maries Untreue ist demnach als Anlass für den Mord zu betrachten, nicht aber als Ursache: Durch den Verlust ihrer Treue kann Woyzeck dem gesellschaftlichen Druck, der auf ihm lastet, nicht länger standhalten. Der Mord an Marie kann als ein Akt der Selbstzerstörung Woyzecks und als eine Befreiung von der Gesellschaft interpretiert werden.
HISTORISCHE SZENISCHE LESARTEN
Woyzeck als Gleichnis für ein unerklärliches, unausweichlich und schicksalhaft über den Menschen auf Erden verhängtes Leiden.
Woyzeck als soziales Drama, als Proletariertragödie. Woyzeck wird durch gesellschaftliche Gegebenheiten und Zwänge zum Mörder und Selbstmörder. Hier wird das Werk zum politischen Kampftheater im Klassenkampf.
Woyzeck als Repräsentant jener hochsensiblen, intensiv fühlenden Menschen, die in eine triebbestimmte, gefühllos kalte Welt gestellt sind. Woyzeck hält die Spannung zwischen seinem inneren Leben und einer rohen Umwelt nicht aus, er fällt in Wahnsinn, wird zum Mörder und Selbstmörder. Er erleidet das immer wiederkehrende Schicksal der Menschen mit den „empfindlicheren Nervensystemen“ in ihrem Kampf mit den stumpfen Empfindungslosen.
Woyzeck als Eifersuchtsdrama, als
Moritat und szenische Volksballade in der Tradition der
deutschen Volksdichtung, der Volksballade und des
Volksliedes.