1947 - 2017 __ 70 Jahre Max E. Keller
PROGRAM
Max E. Keller (*1947)
Der verspätete Wanderer (2017)
für Sänger und Blockflöten, Uraufführung
Mobile (2012/3)
für variable Besetzung
Ruh (2012)
für Countertenor und Blockflöten
1968 - und heute? (2011)
für Sänger und Blockflöten
Sicher sein... (1976)
für Sprecher und Tonband
Grundgesetze III (1977)
für 2 Sprecher und Tonband
Sie (1978)
für Tonband
Veränderungen (1978)
für Blockflöte und Synthesizer
Hymnen (1979)
für Tonband und 1 oder 2 Sprecher
IDEA
Max E. Keller - eines der Urgesteine der Neuen Musik und des Free Jazz in
der Schweiz - feiert 2017 seinen 70. Geburtstag. Seine Musik ist sinnlich,
direkt und polarisiert seit seinen Anfängen durch ihre politischen Statements:
der Skandal, den Keller in den 70ern an den Darmstädter Ferienkursen auslöste,
ist legendär und bleibt bis heute unvergessen. UMS 'n JIP spielen zu seinem
Jubiläum einerseits die Werke, welche Keller für das Duo geschrieben hat,
andererseits holen sie mehrere seiner prägenden politischen Werke aus den
70ern hervor, welche bis heute nichts an Frische und Aktualität verloren
haben. Über 150 Auftragswerke und 850 Konzerte haben UMS 'n JIP seit 2007
hinter sich und dabei einzelne Werke bis zu 100 Mal rund um die Welt gespielt.
Die Überzeugung, dass Neue Musik in erster Linie durch zahlreiche Aufführungen
wachsen und relevant werden kann, teilen sie mit vielen Weggefährten, darunter
Max E. Keller.
ABOUT THE PERFORMED WORKS
"Die Gesellschaft muss sich gegen das Traumbild einer Welt verteidigen, die frei sein könnte."
Mit dem Formprozess von Mobile erinnere ich mich an meine Anfänge, als ich allmählich vom Improvisieren zum Komponieren kam, indem ich verschiedene Wege suchte, die Improvisation formal zu gestalten. In Mobile spielt jedes Instrument in freier Reihenfolge die ihm zusagenden Elemente. Alle haben die gleichen 25 Elemente zur Verfügung, die allerdings sehr unterschiedlich sind, sei es in der Länge, sei es in der Determinierung: von völlig ausnotierten Teilen bis zur Repetition einer Phrase, deren Tonhöhen nur approximativ und deren Dynamik nur als Bandbreite notiert sind; von graphisch notierten Teilen über verbal beschriebenen Strukturen bis zur blossen Anweisung "Kontrastiere einen Mitspieler!"; von einer vollständig ausnotierten gesungenen Passage über einen blossen Rhythmus bis zu einem gesprochenen Text. Die gesellschaftliche Kehrseite solch freier Wahl unterschiedlichster Elemente (auch Instrumente) ist Beliebigkeit und Nivellierung bis zur Orientierungslosigkeit. Typischer Ausdruck davon ist das Internet: eine uferlose Menge von Informationen überschwemmen uns und erscheint unterschiedslos auf ein und derselben Ebene: Wichtiges neben Unwichtigem, Richtiges neben Unrichtigem, Sachliches neben ideologisch Gefärbtem, Wissenschaft neben Werbung...ein vollendeter Ausdruck postmoderner Beliebigkeit. Die gesprochenen oder gesungenen Texte drücken dies explizierter aus, indem sich neben einer Sensationsmeldung ein Detail des Versicherungsrechtes findet, neben einem Grenzzwischenfall ein Plan zur Rettung aus der Finanzkrise steht oder neben einer Parole/Losung der amerikanischen Waffenlobby ein Eichendorff-Gedicht. Alle Texte sind sog. "textes trouvés", d.h. sie stammen mit einer Ausnahme aus Zeitungen und Publikationen von 2013.
"1968 – und heute ?" Drei Aspekte der 68er-Bewegung in drei Abschnitten: Der Krieg der USA gegen Nordvietnam löste weltweite Proteste aus, die dazu beitrugen, dass die Amerikanern 1975 geschlagen abziehen mussten. Heute ist das vereinigte Vietnam ein aufstrebendes Land mit reichen Bodenschätzen. Der Besuch des Schahs von Persien in Berlin im Juni 1967 und die Erschiessung eines protestierenden Studenten durch die Polizei war ein anderer Auslöser der Jugendrevolte von 1968. Der Schah musste bald zurücktreten, die Islamisten übernahmen das Zepter: ein zweifelhafter Erfolg. Das damalige Ideal eines im umfassenden Sinne freien, selbstbestimmten und doch solidarischen Lebens ist einer neuen Angepasstheit und Behäbigkeit, einer bürokratisch geregelten Gesellschaft gewichen. Die Vertonung bedient sich nicht des inzwischen konfektionierten Pop-Idioms, sondern sucht eine eigenständige, möglichst farbige und abwechslungsreiche Umsetzung für die unkonventionelle „Instrumentation“. Gesang und Blockflöte bewegen sich oft auf unterschiedlichen Ebenen, indem sie verschiedene Dimensionen des Textes reagieren. So reflektiert diese Klangwelt die Spontaneität, Phantasie und Unbekümmertheit der 68er-Jahre, ohne in oberflächliche Verdopplungen des Textinhaltes zu verfallen.
"Ruh". Wie viele meiner Kompositionen beruht Ruh’ auf einem einfachen, leicht nachvollziehbaren Modell, das reich variiert wird. Stimme und Instrument finden immer wieder Ruhe auf einem leisen Unisono, einer Oktave oder einer Doppel-Oktave, klanglich, rhythmisch oder farblich umspielt. Sodann erfolgt solo oder a due ein Ausbruch in unruhigere Gefilde - angedeutet manchmal auch im Text – und die Rückkehr auf einen Ruheton. Fast wie im richtigen Leben.
Ruh’.
Die Blätter fallen weit vor der Zeit.
Wo sind die Blumen? Ruh'.
Dunkle Lieder.
Bange gehn wir schwierige Wege, die keiner kennt.
Calmo, zu spät, zu spät, calmo, Ruhe.
Schwarze Wolken über dem Nachbarhaus. Ruhe.
Nasser Schnee liegt auf mir. Ruhe.
Wein giesse ich am Abend in mein Glas, leicht zittert die Hand.
Sicher sein … (1976) für Sprechstimme und Tonband. Das Stück geht vom Widerspruch zwischen Ideologie und Wirklichkeit des Kapitalismus aus, vom Widerspruch zwischen dem, was er den Menschen verspricht, und dem war er ihnen in der Realität bringt. Der Werbeslogan des Schweizerischen Bankvereins, "Sicher sein, Bankverein", kann dafür exemplarisch stehen, wenn man ihn gegen den Strich versteht: Sicher sein kann der Bankverein, dass er auch in der Krise seine Gewinne erhöhen wird, ebenso können die Arbeiter sicher sein, dass ihnen der Arbeitspatz nicht sicher ist. In der Tat hat der Bankverein, der hier natürlich nur als Beispiel figuriert, seinen Gewinn im Jahre 1975 um 14.9% erhöhen können, während in der Schweiz im selben Jahr 160'000 - 200'000 Arbeiter ihre Arbeit verloren. (Die Schweiz hatte 1975 unter den Industrieländern den grössten Beschäftigungsrückgang, konnte aber ihre Arbeitslosen, d.h. die ausländischen Arbeiter, zu einem guten Teil "exportieren".) Die Absicht der Komposition ist es, den monotonen, quälenden, leblosen, gleichbleibenden ökonomischen Prozess, dessen Opfer Menschen sind, musikalisch darzustellen, ihn damit für den - bürgerlichen - Zuhörer erfahrbar zu machen. Die heiter-bunte Oberfläche der Wirtschaft, ihr falscher Schein, welcher den Menschen als Konsumenten dargeboten wird, erscheint dagegen nur als verstümmelte Werbung, die im Kontext einen zweiten, richtigen, allerdings von der Werbung nicht intendierten Sinn erhält. Basis der musikalischen Komposition bildet eine Zeitstruktur, welche mit extremen Dauern operiert, von 1/38 sec. bis 178 sec. (Reihe 1,2,3, 5, 8 ..., welche auch in anderer Hinsicht verwendet wird). Der Rhythmus ist in 5 Teile gegliedert ( 3.20min., 5.30min., 8.48 min.,1.06 min.,2.12 min.), die sich bezüglich Auswahl und Anordnung der Dauern unterscheiden. Dieser streng konzipierte Rhythmus bildet das Grundgerüst der ganzen Komposition. Er wird artikuliert durch zehn verschiedene Elemente ( z.B. Werbeslogan, Gewinnmeldung, Hochton,Tiefton, Punkte, Kirchenglocken), welche nach komplizierten Gesetzen wiederholt und übereinandergeschichtet werden, jeweils nur schwach variiert. Die Musik soll als Mechanismus wirken , der nach strengen, unerbittlichen, aber für den Zuhörer uneinsehbaren und damit sinnlosen Gesetzen mal dieses, mal jenes Element ausspuckt, mal in dieser, mal in jener Länge (wie der ökon. Prozess mal hier, mal dort, mal 20 und mal 200 Arbeiter auf die Strasse wirft). Die Verwendung von langen Dauern und minimaler Veränderung deutet auf "minimal art" hin, doch wird sie nicht lediglich als formales Prinzip verwendet, sondern gesellschaftlich dechiffriert: nicht einfach minimale Veränderung, minimale Mittel als Form, sondern als Darstellung der monotonen Realität, des geordneten Chaos des Kapitalismus. Andererseits wird der rituelle Charakter der "minimal art" (sowohl in der Neuen Musik der neuen Amerikaner als auch im Pop) zwar zitiert (Text als Gebet, lange Flächen, Kirchenglocken), nicht aber um den Hörer zu narkotisieren, sondern um ihn aufzurütteln. Die Meldungen, welche die Sprecherin liest, bilden die längste musikalische Schicht (2.28 min. länger als alle andern zusammen). Sie sind alle gleich, resp. ähnlich formuliert, nur Daten, Zahlen und Namen variieren. Dieser monotone Text bildet den musikalischen und inhaltlichen cantus firmus des Stückes, in ihm wird die Wahrheit über die Gesellschaft, welche die Musik emotional auszudrücken versucht, auch ausgesprochen. Bei einer konzertmässigen Aufführung soll der Live-Sprecher wie ein Tagesschausprecher inszeniert werden.
"Sie" für Tonband (1978) - Sprecher: Hans Suter. Das Werk ist zunächst eine ironische Werbemusik für die Kernenergie, die zwar in den einzelnen Slogans direkt nicht genannt wird. Dem damaligen Hörer dürfte angesichts der Aktualität spätestens beim zweiten Slogan ein Licht aufgegangen sein. Auch mein damaliger Einführungstext will den Titel nicht entschlüsseln, wird aber mit diesem Vorwissen unmittelbar einsichtig: "Sie" löst sequenzartige Prozesse aus, die unabhängig übereinanderlaufen, sich stören, zu einem Höhepunkt zu führen scheinen. Doch die Steigerungen führen wiederholt in die Leere, ins Nichts. Die verschiedenen Prozesse heben sich allmählich auf, gehen nach einem letzten Crescendo ins Graue über. Nur ein einfaches Pochen bleibt übrig, aus dem sich aber eine neue, andere Musik entwickelt. Die Gegenüberstellung zweier Klangwelten reflektiert den Gegensatz zwischen dem blinden Fortschrittswahn einer technikgläubigen Gesellschaft und einer kritisch distanzierten Haltung dazu. Die hochgerüstet bombastischen Sequenzen des ersten Teils sind mit einem damals neuen Sequenzer im Studio der Musik-Akademie Basel entstanden, der in bisher nicht möglicher Genauigkeit und Differenziertheit Synthesizer steuern konnte, das heisst auf einfache Weise längere, komplexe Sequenzen erzeugen konnte. Demgegenüber habe ich die Musik des zweiten Teils weitgehend improvisatorisch auf simplen Gegenständen des Alltags zu Hause realisiert, teils mit Kontaktmikrophonen aufgenommen und mit meinem EMS Synthi AKS (Koffermodell) leicht transformiert. Es lag nahe, dass ich auch eine Version realisierte, bei der am Ende vom Band nur das Pochen übrigblieb, während ich die "neue" Musik auf dem Klavier live improvisierte. Diese Version wurde dann später Teil meines Soloprogrammes mit politischer und improvisierter Musik, das ich von 1981 bis 1983 in vielen Orten der BRD, der DDR, Österreichs und der Schweiz präsentieren konnte.
Grundgesetze III (1977) für vier Sprechstimmen
und Tonband; Version I: alle 4 Sprechstimmen auf Tonband; Version II: 2
Sprechstimmen auf Tonband und 2 live-Sprecher. Grundgesetze
ist der dritte Teil eines auf sechs Teile konzipierten Werkes, das 1975
begonnen wurde. Die Abschnitte I und IV wurden als Orchesterstücke realisiert,
die übrigen Teile blieben ungeschrieben. Textlich basiert das Werk auf der
Konfrontation der Ideologie (z.B. die Verfassung, d.h. das "Grundgesetz"
der BRD) und der Realität der bürgerlichen Gesellschaft. In "Grundgesetze
III" wird ein Text über die sog. soziale Marktwirtschaft auf Band verarbeitet,
während zwei live-Sprecher einige Informationen sowie einen realistischen
Dialog vortragen. Verspricht die soziale Marktwirtschaft den Menschen das
Paradies auf Erden, so knüpft die Vertonung an die triste Realität an: das
bunte Leben ist gewichen und hat einem mechanischen, absolut gleichmässigen
Schlagen Platz gemacht, das rein elektronisch realisiert wurde, dem damit
jegliches inneres Leben fehlt. Dieses Hämmern reflektiert auch das, was
die Popmusik charakterisiert und ihr die berauschende Wirkung gibt, nur
tritt es hier nackt und ohne Draperie auf, nicht mehr narkotisierend, sondern
irritierend.
Wie der Parameter Rhythmik sistiert wird, so auch der Parameter Tonhöhen,
indem 19 verschiedene, in absolut regelmässigen Abständen über den Hörbereich
verteilte Tonhöhe das Grundmaterial für die Akkorde bilden. Anders ausgedrückt:
es handelt sich um einen 19-tönigen Akkord, absolut regelmässig gebaut,
aus dem jeweils einzelnen Töne ausgewählt werden. Komponiert wird primär
mit den in der europäischen Musik eher vernachlässigten Parametern Farbe,
Dichte, Wechsel, Dynamik und Hüllkurve, und zwar für jeden Einzelton des
Akkordes. Das Stück arbeitet mit zwei Temposchichten,
die den beiden Kanälen entsprechend. Die erste dauert etwa bis zur Mitte;
Wechsel, Dichte, Ambitus u.a. nehmen teils geradlinig, teils wellenförmig
zu, bis die Struktur umschlägt in uncharakteristisches Grau. Die zweite,
langsamere Temposchicht dagegen entwickelt sich umgekehrt, vom Komplexen
zum Einfachen. Gegen Ende gerät auch das starre Hämmern in Bewegung: das
Tempo schwankt etwas, die Tonhöhen gleiten auf eine neue Stufe (reine Quarten),
das Schlagen verändert sich allmählich zu Fläche: eine neue Qualität entsteht.
Der verspätete Wanderer. Darf man angesichts des Zustandes der Welt ein Gedicht vertonen, welches bedenkenlos das Ich ins Zentrum stellt ? Ein Ich, das seine eigene Endlichkeit und Vergänglichkeit reflektiert ? Ein Gedicht des Romantikers Eichendorff ? Das wird heutzutage möglicherweise fast als frivole Selbstvergessenheit verurteilt, aber vermutlich wird durch die Frage nach dem eigenen Schicksal die Welt nicht schlechter. Ja - vielleicht trägt die Selbstreflexion gar dazu bei, dass man sich gegenüber der Welt anders verhält, dass die rückhaltlose Einsicht in die eigene Endlichkeit die Sicht auf die Welt verändert und mindestens bewirken kann, dass man die eigene Weltanschauung (und schon gar nicht eine fremde, blind befolgte) nicht für die einzig mögliche hält und sie gar anderen aufzwingen will. Und das wäre ja schon etwas. Die Vertonung nimmt unprätentiös die Zweiteilung des Sonetts zum Ausgangspunkt, zumal die Quartette das sorglos-zukunftsfreudige Damals beschreiben, während die Terzette die gegenwärtige Erfahrung der Endlichkeit reflektieren. Sie enden mit der Frage des Anfangsverses, die zuerst fröhlich beschwingt klingt, am Schluss aber sorgenvoll, ja gar "erschrocken": "Wo werde ich wohl sein im künft'gen Lenze?" Die Vertonung nimmt bereits am Anfang dieses Umkehren von fröhlicher Unbeschwertheit in nachdenklich-erschrockene Melancholie vorweg, indem sie mit einem heftigen Ausbruch beginnt und vor dem Schlussvers diesen Ausbruch nochmals kurz aufblitzen lässt, um damit eine Schicht hinter der freundlich-glatten Oberfläche des romantischen Gedichtes zu beleuchten.
Joseph von Eichendorff (1788 - 1857)
Der verspätete Wanderer, 1854
Wo aber werd' ich sein im künft'gen Lenze?
So frug ich sonst wohl, wenn beim Hüteschwingen
Ins Tal wir ließen unser Lied erklingen,
Denn jeder Wipfel bot mir frische Kränze.
Ich wußte nur, daß rings der Frühling glänze,
Daß nach dem Meer die Ströme leuchtend gingen,
Vom fernen Wunderland die Vögel singen,
Da hatt' das Morgenrot noch keine Grenze.
Jetzt aber wird's schon Abend, alle Lieben
Sind wandermüde längst zurückgeblieben,
Die Nachtluft rauscht durch meine welken Kränze,
Und heimwärts rufen mich die Abendglocken,
Und in der Einsamkeit frag' ich erschrocken:
Wo werde ich wohl sein im künft'gen Lenze?
Veränderungen. Kommentar (fast 40 Jahre danach): 1978 feierte die IGNM Basel ihr 50jähriges Bestehen und lud die IGNM Bern und Zürich ein, einen musikalischen Beitrag an die Festivitäten zu gestalten. "Zeitgemässes Kollektiv der Vorstandmitglieder und der Zürcher Komponisten" - so trat die IGNM Zürich an. Meinen Beitrag "Veränderungen" schrieb ich für Toni Häfeli (Blockflöte) und mich selber am Synthi AKS, dem ersten Synthesizer, den man sich leisten konnte (Fr.6000.-). In meinen Notizen lese ich - ganz im Geiste der damaligen Zeit: "Instrument ist Mittel, die Natur zu beherrschen. Doch die Naturbeherrschung wird im Kapitalismus durch die Produktionsverhältnisse zur Beherrschung des Menschen durch die Verhältnisse." Die ambitiöse Idee, diese Umkehrung darzustellen, exponiert der Flötenspieler zunächst im naiven Urzustand, im schlichten, unverstärkten Spiel mit seinem Instrument, seinem Produktionsmittel. Dann tritt die Verstärkung und der Synthesizer als Repräsentant der neuen Produktionsmittel und -verhältnisse auf, nimmt den Flötenton auf in seine Maschinerie, verändert, verformt ihn, wobei die Flöte zusehends die Kontrolle über das Geschehen verliert, die produzierte Musik gehört zunehmend dem Besitzer der neuen Produktionsmittel, obgleich sich der Flötist mit seinem Musizieren dagegen wehrt. Schliesslich zitiert er resigniert einige einschlägige Marx-Fragmente und endet mit: "Das Produkt beherrscht den Produzenten." Die Klänge überrollen ihn, seine Flöte verstummt und er verlässt die Bühne.
Hymnen, für Sprechstimme (live) und Tonband (1979). Hymnen konfrontiert den authentischen Bericht eines Chilenen über seine Erlebnisse bei den Folterungen durch die chilenischen Faschisten mit eine Collage von Nationalhymnen. Als Basismaterial wurden Hymnen derjenigen Länder ausgewählt, die den Putsch vom 11. September 1973 der Militärs unter Führung Pinochets direkt gefördert haben, oder doch zumindest indirekt davon profitierten. Es geht also nicht um Chile als ein fernes Land, dass mit uns nichts zu tun hat, sondern es geht um unsere Schuld an den Zuständen in Chile. Zunächst werden nur einzelne, charakteristische Bruchstücke dieser Hymnen vorgestellt, danach werden sie als Ganzes verarbeitet, und schliesslich werden sie zu einer neuen Hymne zusammengesetzt. Diese Zusammensetzung demonstriert im Musikalischen ihre Auswechselbarkeit - auswechselbar sind sie auch hinsichtlich ihrer Texte; daher werden sie textlos verwendet. Die idealistischen Verherrlichungen kippen angesichts der Realität um in blanken Hohn. Artikuliert wird diese deutlicher noch dadurch, dass zwischen den einzelnen Teilen der Collage die chilenische Hymne gesungen und unverarbeitet klingt, untertitelt mit einer Übersetzung des Originaltextes. Als Leitmotiv der Collage wird die Marseillaise verwendet. Das kämpferische Lied der Französischen Revolution ist Chiffre und historischer Ursprung aller Versprechen auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, welche die Hymnen abgeben, welche aber die Geschichte bis heute nicht erfüllt hat.
(Max E. Keller)
MAX E. KELLER
Max Eugen Keller (* 19. März 1947 in Aarau) ist ein Schweizer Komponist, Jazz-Pianist und improvisierender Musiker und als solcher auch einer der ersten Free-Jazz-Musiker der Schweiz. Sein Œuvre umfasst mehr als 150 Werke aus dem Bereich der Bühnen-, Orchester- und Kammermusik (auch elektronische Musik). Als Präsident leitete er von 1985 bis 1993 das Theater am Gleis in Winterthur. Ausserdem war er von 2007 bis 2010 Vorsitzender der Schweizerischen Gesellschaft für Neue Musik (SGNM). Für seine Verdienste um die zeitgenössische Musik wurde er u. a. 2006 mit dem Kulturpreis der Stadt Winterthur ausgezeichnet.
Max Eugen Keller wurde 1947 als Sohn eines Druckereibesitzers in Aarau geboren. Zu seinen Vorfahren gehören die freisinnigen Politiker Gottfried und Emil Keller. Keller erhielt in seiner Jugend Blockflöten- und Klavierunterricht und besuchte von 1964 bis zur Matur 1967 die Alte Kantonsschule Aarau. Entgegen dem traditionellen Musikbetrieb war er von 1966 bis 1973 als einer der ersten Free-Jazz-Musiker (Pianist und Tenorsaxophonist) der Schweiz aktiv. Im Jahr 1967 debütierte er beim Zürcher Jazzfestival. Er spielte in dieser Zeit auch in verschiedenen Improvisationsensembles, wie der 1969 gegründeten Gruppe für Musik und dem 1970 gegründeten deutsch-schweizerischen Trio NED. Zur letztgenannten Besetzung gehörten die Musiker Gerhard Stäbler (Stimme) und Wilhelm Schulz (Cello). Keller trat sodann bei Konzerten und im Rundfunk der Schweiz, in Deutschland, Belgien, in der Tschechoslowakei und in Polen auf. Von 1967 bis 1974 studierte Keller Germanistik und Geschichte an der Universität Basel sowie Musikwissenschaft bei Hans Oesch. Gleichzeitig absolvierte er ab 1969 ein Kompositionsstudium bei Hans Ulrich Lehmann an der Musik-Akademie der Stadt Basel.
Im Jahr 1970 besuchte er die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt. Kontrovers verlief sein Auftritt 1972 (Teilnahme als Stipendiat der Stadt Darmstadt), als er nach politischen Äusserungen kurzzeitig von den Kursen ausgeschlossen wurde. Gemeinsam mit Rudolf Frisius, Reinhard Oehlschlägel, Nicolaus A. Huber, der sein späterer Lehrer wurde, und Ernstalbrecht Stiebler forderte er gegenüber der Leitung der Darmstädter Ferienkurse um Ernst Thomas mehr Demokratie und Internationalisierung. Im folgenden Jahr erhielt er Kompositionsunterricht bei Helmut Lachenmann. Von 1975 bis 1976 studierte er dann Elektronische Musik bei Nicolaus A. Huber und Dirk Reith an der Folkwang-Hochschule Essen. Ausserdem komponierte er seine ersten Stücke. Von 1976 bis 1977 war er als Stipendiat der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestrundfunks (SWR) bei Thomas Kessler und Thomas Johnson am Elektronischen Studio Basel tätig. Ebenda entstand auch sein erstes elektroakustisches Werk Sicher sein… (1976) für Sprecher und Tonband. Er arbeitete in der Folge an szenischer und politischer Musik, so beispielsweise an der Kantate Fontamara (1984–86) nach dem gleichnamigen Roman von Ignazio Silone, die in mehreren europäischen Ländern, auch bei Rundfunkanstalten, aufgeführt wurde.
Im Jahr 1977 wurde er Lehrer für Deutsch und Staatskunde an der Ingenieurschule Technikum Winterthur. Zudem wirkte er wieder seit 1980 als improvisierender Musiker mit den Schwerpunkten Klavier und elektronische Musikinstrumente. Konzertreisen führten ihn nach Südamerika, Deutschland, in die Niederlande und die Schweiz. Musikalische Begegnungen hatte er u. a. mit Dani Schaffner, Christoph Gallio, Peter A. Schmid und Mathias Rissi im Improvisationsensemble Tangramusic (seit 1988), mit Hannes Bauer und Dietrich Petzold im Trio Ampio[9] (seit 2003) sowie mit Kurt Grämiger, Daniel Mouthon, Thomas Borgmann, Hans Koch, Urs Leimgruber, Günter Müller, Hans Hassler, Charlotte Hug, Matthias Ziegler, Christian Wolfarth, Günter Heinz und Barry Guy in verschiedenen kammermusikalischen Besetzungen.
Seit 1985 organisiert er Neue Musik- (Reihe musica aperta, seit 1999) und Jazz-Konzerte im Theater am Gleis in Winterthur. Von 1985 bis 1993 war er Präsident dieses Kleinkunsttheaters. Im Jahr 1985 gehörte er mit den Kulturschaffenden Christoph Keller, Mathias Knauer und Jürg Stenzl zu den Mitveranstaltern der Tage für politische Musik im Theater am Neumarkt Zürich. Darüber hinaus war er Repräsentant des Schweizer Tonkünstlervereins bei der Musik-Biennale Berlin (DDR). Von 1989 bis 1991 war er als Vorstandsmitglied in der IGNM Zürich vertreten. Als Nachfolger von Jean-Luc Darbellay wirkte er von 2007 bis 2010 als Vorsitzender der Schweizerischen Gesellschaft für Neue Musik (SGNM). Ausserdem beteiligt sich Keller regelmässig mit Beiträgen in der Neuen Zürcher Zeitung sowie im Landboten und Tages-Anzeiger an öffentlichen Diskussionen zur Schweizer Kultur- und Bildungspolitik.
Seit den 1970er Jahren hat er etwa 150 Stücke komponiert, elektronische Musik mit eingeschlossen. Seine Werke wurden in Europa, Australien, Südafrika, Nord- und Südamerika, Russland, Korea, China, in der Mongolei und in Aserbaidschan aufgeführt. Zu den Interpreten gehörten Ensembles wie das Orchester Musikkollegium Winterthur, die Gruppe Neue Musik Hanns Eisler und das Silesian String Quartet. Die Weltmusiktage der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM/ISCM) in Zürich (1991) und Mexiko-Stadt (1993), das New Music Miami ISCM Festival (2002) sowie die Biennalen Berlin und Paris nahmen ihn ins Programm auf. In Montevideo wurde 1995 ein Komponistenporträt über ihn abgehalten. Mit einem Stipendium des Kantons Aargau (1999) hielt er sich für mehrere Monate in einem Atelier in Berlin auf. Insgesamt zwei Grammont-Porträt-CDs von Musiques Suisses entstanden über Keller, darunter auch die Aufnahme seiner Orchestermusik Mondlandschaft (1999) mit dem Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung des US-amerikanischen Dirigenten David Zinman. 2015 CD Vier politische Kompositionen für Tonband (1976-1979). 2014 mehrere Werke in Tokio im Rahmen der Feier zu 150 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Japan und der Schweiz. 2015 Einladung als Gastkomponist ans 25th Daegu Contemporary Musikc Festival (Korea).
Max E. Keller gehört der sogenannten 68er-Generation an, was sich ebenso in seiner Tonsprache ausdrückt. Keller ist mit Improvisationsmusik aufgewachsen und definierte diese 1973 als: «Improvisation […] hebt die Arbeitsteilung Komponist – Interpret, die immer ein Herrschaftsverhältnis impliziert, tendenziell auf. Nicht mehr hat ein Interpret nachzuspielen, was ein Komponist ihm vorschreibt, sondern der Improvisator ist zugleich der Schöpfer und Spieler des Erklingenden. Innerhalb eines Kollektivs versucht der einzelne Spieler, sich musikalisch zu verwirklichen, sich frei zu entfalten in der dialektischen Beziehung zu seinen Mitspielern.» Der Tübinger Musikwissenschaftler Otto Paul Burkhardt sieht seine Werke daher mit „eine[r] gewisse[n] Distanz zu gängigen Schreibweisen“. Mehrere von Kellers Kompositionen sind bewusst nicht auskomponiert und weisen Free-Jazz-Elemente auf.
Durch die Auseinandersetzung mit Neuer Musik unter Helmut Lachenmann in den 1970er Jahren fand Keller Zugang zur sogenannten «Ernsten Musik». Beeinflusst durch seinen deutschen Kompositionslehrer, entwickelte er Sympathien für die «Geräuschmusik» (Musique concrète). Später komponierte er unter Einsatz von Tonbändern und Synthesizern mehrere elektroakustische Stücke. Sein linkes gesellschaftskritisches Anliegen versucht er durch die Kombination von Musik und Text (Fried, Weibel, Geerk) auszudrücken. Dabei nimmt er stilistisch Bezug zu Hanns Eisler, der ebenso expressionistische Ansätze verfolgte. Keller liess in seine Werke gleichermassen serielle und freie Ansätze einfliessen. Er verwendete Gestaltungstechniken der Schönberg-Schule, wie beispielsweise Dodekaphonie. Bei Keller ist eine besondere Hinwendung zum Musiktheater festzustellen. Zu seinen umfangreicheren szenischen Werken gehören u. a. die Miniaturoper Egon – aus dem Leben eines Bankbeamten (1981), die Kantate Fontamara (1984–1986) und die Kammeroper Die Axt (2004–2006). Durch seine szenisch-theatralischen Beiträge wie Achuapa/Nicaragua (1986), Swissfiction (1990) und Konfigurationen III (1991) bindet er den Hörer trotz Komplexität an seine Werke.
Max E. Keller wurde mehrfach mit Preisen und Förderbeiträgen ausgezeichnet. Seinen ersten Preis erhielt er für Sicher sein… beim Concours international de musique electroacoustique in Bourges (Frankreich). Es folgte 1995 ein Förderpreis der Schweizerischen Bankgesellschaft in Zürich für Kreuzende Wege, den er mit Werner Bärtschi, Ulrich Gasser, Martin Sigrist und Peter Wettstein teilte. 1997 wurde er für seine Verdienste um die zeitgenössische Musik in Winterthur mit dem mit 10000 Franken dotierten Kunstpreis der Carl-Heinrich-Ernst-Stiftung ausgezeichnet. Im Jahr 2001 erhielt er für tenuto, battuto, fulminante einen Förderbeitrag des Aargauer Kuratoriums. Ein Beitrag an das künstlerische Schaffen des Aargauer Kuratoriums (2003) schloss sich an. Im Jahr 2006 erhielt er für sein «grosses musikalisches Schaffen, das international Beachtung findet» den Kulturpreis der Stadt Winterthur. Ein weiterer Beitrag an das künstlerische Schaffen des Aargauer Kuratoriums wurde ihm 2008 zuerkannt. Zuletzt wurde Keller 2012 mit einem zweiten Preis beim Kompositionswettbewerb der Deutschen Oper Berlin (für: wanawizzi) ausgezeichnet.
http://www.max-e-keller.ch/biographie/index.php
PHOTOS
23 MAR 2017, Villa Sträuli, Winterthur, Switzerland
PRESS
REFERENCES
SUPPORTS